Ohne Vorurteile und Leistungszwang

Silvio Odoni vor dem Gebäude an der Teufenerstrasse 1 in St. Gallen

Seit Anfang April 2022 arbeitet Silvio Odoni am Aufbau des künftigen Tageszentrums obvita, das an der Teufener Strasse in St. Gallen seinen Platz finden soll. Die Bewilligung seitens Kanton St. Gallen ist noch ausstehend, die Ziele und Angebote hingegen sind bereits festgelegt, wie der Leiter des Tageszentrums berichtet.

Silvio Odoni, Du hast in Krummenau ein Tageszentrum geleitet und bringst somit Erfahrung mit. Gibt es etwas, das Du im obvita Tageszentrum bewusst anders machen möchtest?
Da obvita vielseitige Angebote bietet, möchte ich eine engere Zusammenarbeit mit der Beruflichen Integration und der Produktion anstreben. Bereits in Planung ist ein Beratungsangebot in Form von Orientierungsgesprächen, die Menschen mit einer IV-Rente neue Perspektiven bezüglich Arbeit, Beschäftigung und Tagesstruktur aufzeigen werden. Des Weiteren ist mir wichtig, Strukturen zu schaffen, die administrative Arbeiten überschaubar halten. Die Betreuungspersonen sollen den Hauptteil ihrer Arbeitszeit den Besuchenden widmen können. An meiner letzten Arbeitsstelle nahm der administrative Aufwand aufgrund von Nachweiserbringungen und Erhebungen zunehmend zu viel Raum ein.

Wie sieht das Angebotsprogramm aus?
Die Arbeitsmöglichkeiten im Tageszentrum werden sehr vielfältig sein. Es stehen verschiedene Materialien und Werkzeuge für das kreative Schaffen zur Verfügung, aber auch die Mithilfe beim Kochen oder andere hauswirtschaftliche Tätigkeiten sind Teil des Programms. Auch regelmässige Gruppenaktivitäten ausserhalb des Zentrums wird es geben. Die Angebote sollen sich an den Interessen und Bedürfnissen der Besuchenden orientieren und somit stetig angepasst oder erweitert werden. Wesentlicher Pfeiler des Tageszentrums ist die Selbstbestimmung. Die Besuchenden bringen sich da ein, wo sie können und wollen. Niemand wird gezwungen, sich an Angeboten oder Aktivitäten zu beteiligen.

Das Tageszentrum richtet sich an psychisch beeinträchtigte Menschen. Das heisst konkret?
Tageszentren entstanden aus einer Angebotslücke heraus. Menschen, die zum Beispiel nach einem Klinikaufenthalt austreten, können vielfach noch nicht die kontinuierliche Leistung erbringen, die eine Arbeitsstelle oder Werkstätte von ihnen erfordert. Eine Vielzahl dieser Personen beginnt sich wieder zu Hause zu isolieren, bis der nächste Klinikaufenthalt folgt. Eine andere Klientengruppe sind Personen, die bereits verschiedene Erfahrungen im 2. Arbeitsmarkt sammelten, die Rahmenbedingungen passten jedoch nicht zu ihnen; sei es durch Überforderung, Unterforderung, zu hohe Fehlzeiten usw. Ein niederschwelliger Begegnungsort mit breiter Wahlmöglichkeit der Beschäftigung und ohne Leistungserwartung passt da eher. Es herrscht hier kein Leistungszwang und die Besuchenden wissen, dass sie auch in einer schwierigen Zeit in Kontakt bleiben können. Das vermittelt ihnen Stabilität. Kurzum, das Tageszentrum wird von Menschen mit verschiedenen Krankheitsbildern genutzt. Voraussetzung ist eine IV-Rente oder mindestens eine IV-Anmeldung.

Worauf gilt es besonders zu achten bei der Betreuung dieser Menschen?
Jeder Mensch will ernst genommen werden. Daher ist der Respekt gegenüber den individuell angelegten Lebenskonzepten, den erlangten Fähigkeiten, Wünschen wie auch Ängsten hohe Achtung zu schenken. Bei den meisten Besuchenden schlummern verdeckte Talente, die es zu bergen gilt. Jemanden zu befähigen, sein Wissen einzubringen oder weiterzugeben ist ein Gewinn für alle Beteiligten. Das Tageszentrum ist kein therapeutisches Setting, ersetzt dieses auch nicht. Der Fokus unserer Arbeit liegt in der Förderung der Ressourcen und den «gesunden» Anteilen einer Person. Gleichwohl muss die Zusammenarbeit mit den Fachpersonen aus Therapie und Medizin angestrebt und gepflegt werden.

Ist das Ziel «Beschäftigung und Tagesstruktur» oder auch «Entwicklung und Genesung»?
Für neueintretende Besuchende stellt bereits der Gang ins Tageszentrum oder ein kurzer Aufenthalt eine grosse Herausforderung dar. Das muss uns bewusst sein und beachtet werden. Findet die Person ihren Platz in der Gruppe und eine sinnstiftende Aufgabe im Tageszentrum, kann eine grosse Hürde überwunden werden. Vordergründiges Ziel ist nun, durch die Aufrechterhaltung der «Beschäftigung und Tagesstruktur» allfällige Krisen zu begleiten und aufzufangen, um dadurch Klinikaufenthalte möglichst zu verhindern. Konnte die betreffende Person die nötige Stabilität aufbauen und einen Umgang für das Leben mit der Krankheit finden, ist eine riesige Entwicklung durchgemacht worden. Doch den Anspruch, dass Menschen im Tageszentrum von ihren psychischen Erkrankungen genesen, können wir nicht erfüllen.

Herzlichen Dank für das Gespräch. Wir drücken Dir die Daumen, dass es mit der Lokalität an der Teufener Strasse in St. Gallen klappt.

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